Die Ratte und das Ei

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Die Dunkelheit war willkommen, die große gelbe strahlende Fratze am Himmel sollte bloß wegbleiben von diesem herrlichen Ort. Eine kleine Ratte huschte durch die Gänge der Kanalisation. Sie schnüffelte rechts, ein paar kleine Käfer, nicht der Rede wert. Sie schnüffelte nach links. Ham ja, das könnte eine Spur sein. Es roch frisch, ja ein schönes Frisch. Faulig, vergammelt, vielleicht sogar schon leicht angeschimmelt. Ja, ein richtiges Rattenfrisch.
Die kleine Schnauze schnüffelte sich weiter durch das Abflussrohr, kroch nach rechts von dem Hauptrohr ab in ein altes kaum noch genutztes. Hier gab es Spinnen, vielleicht sogar welche, die ihr gefährlich werden könnten. Sie kam an eine Öffnung. Nur ein schmaler Spalt in dem zersprungenen Rohr. Draußen war es hell, sehr hell, nach der Menschenzeit durfte es wohl etwa Mittag sein.
Von irgendwoher erklang lautes Gegacker und ein Hahn krähte. Die Ratte zwängte sich durch den schmalen Schlitz hindurch und schüttelte sich einmal in der Wärme der Sonne. Sie schnupperte wieder und erspähte den Ort der Begierde, ein paar Reste vom Mittagessen, welche die Menschen ihren Schweinen hingeworfen hatten.
„Viel zu schade, die schönen Sachen an die Schweine zu verschwenden“, dachte diese sich und ging auf den Haufen zu.
Doch bevor sie ihn erreichte, viel ihr etwas anderes auf, etwas das zwar weder so gut roch, noch so gut aussah. Aber es hatte andere anziehende Dinge an sich.
„Ei, Ei, was haben wir denn da?“, fragte sie sich und tippelte schnüffelnd und vorsichtig an die weiße Kugel heran.
Nein, es war keine Kugel. Es war fast eine Kugel, aber halt nicht ganz. Die eine Seite war länger gezogen. Die Ratte schnupperte daran. Das Ding war etwas warm. Diese komische Form fand die Ratte seltsam. Sie fragte sich, was dort drinnen, sei. Vorsichtig schlich sie näher und stieß das Ei, welches in einer Kuhle lag an. Bestimmt befand sich darin etwas Leckeres. Sie beschloss es mit in ihr Nest zu nehmen. Die Ratte stemmte sich mit aller Kraft dagegen, um es herauszubekommen. Schon nährte sich mit lautem Gegacker und Beschimpfungen die Henne, doch schwupps rollte das Ei aus dem Nest und über dessen Rand. Es kullerte den kleinen Hang hinunter und die Ratte musste sich beeilen, es noch zu verfolgen. Es verschwand in einem kleinen Loch, das den Eingang zur Kanalisation bildete. Die Henne kam hinterher geflitzt, laut schimpfend. Sie pickte nach der Ratte, doch die verschwand schon im Loch. Die Henne konnte nicht hinterher, sie war zu groß.
Die Ratte folgte dem Ei, das den Kanal hinab kullerte. Bald rollte das Ei etwas hinauf und sie folgte ihm noch immer, stand nun genau in einer Senke, als das Ei seine Richtung wechselte. Sie starrte das Ei zunächst ungläubig an, quiekte einmal und versuchte dann dem Ei zu entkommen, doch dieses war schneller und schubste sie ein Stück vorwärts. Schimpfend und quiekend drehte sie sich wieder um und sah dann, dass das Ei in der Senke liegen geblieben war. Die Ratte wollte das komische Ding unbedingt haben. Bestimmt verbarg sich eine Köstlichkeit darin. Sie schnaufte und stöhnte, als sie es den Hügel hinauf rollte, um es in Richtung ihres eigenen Nestes zu bringen.
Oben angekommen sah sie zurück und schnupperte. Sie musste auf der Hut sein, hier gab es überall versteckte Diebe. Ja sehr vorsichtig. Sie schnupperte noch einmal, als plötzlich die Erde durch einen Schritt auf der Oberfläche leicht bebte und das Ei die lange Rinne hinunterzukullern begann. Es rollte durch ein paar zerdrückte Beeren und wurde rot. Die Ratte hastete wieder hinterher und fast hätte sie es erreicht, als das Ei aus der Röhre hinausschoss und auf eine Straße rollte. Sie sah, blinzelnd im Sonnenlicht, zu dem Ei, dann zur Straße. Sie setzte einen Fuß auf den Asphalt. Plötzlich ertönte ein lautes 'Tuut, Tuuuut'.
Ein Auto brauste an ihr vorbei. Sie sah ihm hinterher und sah schon ein weiteres Auto aus der anderen Richtung heranbrausen. Das Ei war unterdessen in der Mitte der Straße zum liegen gekommen. Als ein weiteres Auto daran vorbeifuhr, setzte es sich jedoch wieder in Bewegung und drohte unter den nächsten Rädern zerquetscht zu werden. Die Ratte blickte zwischen Ei und Auto hin und her. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und rannte schnell auf die Straße, um ihren Schatz zu retten.
Wruuum, beinahe hätte ein Reifen ihren Schwanz erwischt. Sie kam kaum dazu einmal aufzuatmen, als sie schon bemerkte, das durch den Windzug des rasenden Gefährtes das Ei wieder in Bewegung gebracht worden war und bereits seinen Weg über die Straße fortsetzte.
Ohne groß nachzudenken, sprintete die Ratte hinterher. Da war auch schon das nächste Auto da. Sie wich nach hinten aus, dann schnell wieder nach vorne und tänzelte so kurz auf der Mitte der Fahrbahn, während die Fahrer der Ungetüme ihr nicht die geringste Beachtung schenkten.
Schließlich gelang es ihr doch, über die Fahrbahn in Sicherheit zu gelangen. Sofort hielt sie verzweifelt nach dem Ei Ausschau. Es war verschwunden. Dann entdeckte sie es in einer kleinen Schlammkuhle auf der anderen Seite eines Jägerzaunes. Sie sprintete in Richtung des Eis. Doch stoppte sie schnell, als sie das laute Bellen eines Hundes hörte. Der Hund kam angesprungen. Seine Zähne glänzten scharf. Speichel tropfte aus seinem Maul. Und dann begann er auch noch an dem Ei zu schnüffeln.
„Waldi! Bei Fuß“, rief ein junges Menschenmädchen und der Hund stieß das Ei nur noch einmal mit seiner Schnauze an, bevor er zurück zu Frauchen lief.
Dieser Anstoß genügte schon, um die Odyssee des Eis fortzusetzen und der Ratte einen neuerlichen Schock zu verpassen. Das Ei kullerte durch das grüne Gras und hörte nicht auf, ihr davonzurollen. Die Ratte stürmte durch den wilden Jungel aus Blumen und Hecken und der Schweiß lief ihr von der Stirn. Es kullerte geradewegs auf eine Flasche Farbe zu. Das Ei stieß die Farbe um, bekam ein paar blaue Spritzer ab und blieb, eingepfercht zwischen Zaun, Farben und einem großen Stein, liegen. Die Ratte betrachtete das Ei. Nun war es braun von der Erde, grünes Grass klebte hier und da daran, vom Saft der Beeren war auch etwas übrig geblieben und zusätzlich hatte es ein paar andere Farben von verschiedenen Dingen abbekommen. Aber die Ratte freute sich, nun würde ihr niemand mehr ihren Schatz wegnehmen.
Doch plötzlich schien das Ei die Flucht ergreifen zu wollen, denn es bewegte sich. Kullerte hin und her. Dann knackste es leise. Verwundert und staunend schnüffelte die Ratte an dem Ei herum und wieder knackste es einmal. Die Schale bekam kleine Risse. Verdutzt mit offener Schnauze und großen Augen starrte die Ratte das Ei an. Dann platzte die Schale gänzlich auf und ein kleines gelbes Küken streckte seinen Schnabel hinaus.
„Mami?“
Die Ratte drehte sich erschrocken um und suchte das Weite.

Und so wurde das Ei bunt und die Ratte beschloss, sich nie wieder mit etwas anzulegen, das davon rollen konnte.