Der goldene Weihnachtsbaum

Geschrieben von

Es war einmal, in den Tagen, in denen die Winter noch mit Schnee erfüllt waren und die Rehe noch frei im Wald herumlaufen konnten. Da träumte ein Jüngling von der Müllerstochter. Sie war sehr hübsch anzusehen und hatte goldenes, lockiges Haar, das ihr weit über die Schultern reichte. Ihr Lächeln schien das Lächeln der Sterne zu sein und ihre Stimme verführte zum Gesang. Oft stand der Jüngling, Rotweiß wurde er genannt, abends an seinem Zimmerfenster und blickte zur Spitze des Kirchturms und stellte sich vor, dass sie dort stände und nur für ihn sänge.
So begab es sich, dass es Winter wurde und der erste Schnee viel. Alsbald läuteten die ersten Glöckchen der Schlitten durch das Dorf und Zweige und Tannen wurden herbeigeschafft. Genauso wie Gänse und anders armes Vieh, das zu Weihnachten geschlachtet werden sollte. Es sollte ein schönes Fest werden. Es sollte ein großes Fest werden.

Der Jüngling Rotweiß beschloss, dass es an der Zeit war, seine Liebe zu gestehen. Doch fand er, es solle nicht einfach so geschehen, wie ein jeder es tut. Es sollte etwas Besonderes sein. So beschloss er, in den Wald zu gehen, um den schönsten Weihnachtsbaum zu finden, den er sich vorstellen konnte. Diesen wollte er auf der Spitze des Kirchturmes anbringen. Er nahm dicke Handschuhe, etwas Brot für die Mittagszeit und die Axt seines Vaters. Sein Vater hatte sie ihm geschenkt, kurz bevor er viel zu früh gestorben war. Rotweiß machte sich auf den Weg durch Schnee und Eis. Noch ehe er das Dorf verlassen hatte, traf er auf seinen Bruder, der ebenfalls mit dicken Handschuhen, Brot und Axt ausgestattet war.
„Bruderherz. Sag mir, was hasst du vor bei diesem kalten Wetter?“
„Ich will in den Wald und eine besonders schöne Tanne suchen.“
„Mit der alten Axt? Nimm lieber diese hier, die durchtrennt jeden Stamm mit drei Schlägen.“
Rotweiß überdachte das Angebot seines Bruders. Er hatte die Axt seines Vaters lieb gewonnen. Sie hatte ihm immer treue Dienste geleistet. Doch die Schneide war tatsächlich nicht mehr sehr scharf und der Stil saß schon ein wenig locker. Also nahm er das freundliche Angebot seines Bruders an und sie tauschten die Äxte. Mit gutem Willen und einem fröhlichen Lied auf den Lippen marschierte Rotweiß in den Wald hinein.
Doch er wusste nicht, dass sein Bruder seinen Plan mitgehört hatte und sich selbst am liebsten an der Seite des schönsten Mädchens des Dorfes sähe. Blaugrün, hatte beschlossen, es seinem Bruder gleichzutun. Er würde die schönste aller Tannen auf der Spitze des Kirchturms befestigen.

Der Wald war groß und hoch reichten seine Äste in den Himmel hinein. Rotweiß umrundete mehrere Tannen, doch keine wollte ihm so recht gefallen. Er wollte sich schon umdrehen, doch da erinnerte ihn das Zwitschern eines Vogels an die liebliche Stimme seiner Angebeteten. Seine Schritte führten ihn tiefer in den Wald, als je zuvor.
Schließlich trat er auf eine Lichtung, auf der viele kleine Tannen standen. Bald fand er seinen Baum, zierlich aber mit gerader Spitze und zu allen Seiten gut geformt. Er hob die Axt und holte aus. Die Scheide zerbrach und viel in den Schnee. Er blickte entsetzt auf die drei Teile hinab. Die linke und die rechte Hälfte des gespaltenen Eisens, sowie den knorrigen, aber kräftigen Stiel.
Ein Rascheln zwischen den Zweigen zog seine Aufmerksamkeit nach oben, zur Spitze einer großen Tanne am Rande der Lichtung. Er blickte in große, runde Augen. Das Wesen erschrak und purzelte aus den Zweigen in den Schnee. Ein Zwerg richtete sich auf und blickte Rotweiß in die Augen.
In jenen Tagen waren Zwerge in den Wäldern nichts Besonderes. Sie kamen häufig aus ihren Höhlen, um Holz im Wald zu sammeln. Doch war es ungewöhnlich, das einer von ihnen auf einem Baum saß. Rotweiß half der kleinen Gestalt wieder auf die Beine zu kommen.
„Guten Tag Herr Zwerg. Was treibt euch so hoch auf den Baum?“
„Ich suche den Weg zum nächsten Dorf. Dort würde ich gerne allerlei der zwergischen Handwerkskunst zum bevorstehenden Feste anbieten.“
„Der Weg ist einfach zu finden“, erklärte Rotweiß, „Folge einfach meinen Fußspuren diesen alten Pfad entlang bis du an eine große Buche kommst. Dort wirst du einen breiten Weg finden, dem du nur zu folgen brauchst.“
„Habt Dank. Graugrimm ist mein Name. Ich konnte nicht übersehen, dass deine Axt zerbrochen ist“, erklärte der Zwerg und wie es die Art der Zwerge ist, sagte er gleich, was er wollte, „Nun, da sie unbrauchbar ist, schenkst du sie mir?“
Rotweiß blickte zu den Teilen. Lange brauchte er nicht zu überlegen, ehe er antwortete: „Tut mir leid. Aber du kannst sie nicht haben. Zwar ist sie keine Zwergen- oder Zauberaxt, dennoch ist sie eine Leihgabe meines Bruders und ich will sie ihm zurückgeben, auch wenn ich sie zerstört habe.“
Der Zwerg nickte, sagte dann jedoch: „So lass mich sie wenigstens reparieren.“
„Dagegen kann wohl niemand etwas einwenden. Wenn es dir Freude macht, dann tu“, entgegnete der Jüngling.
Graugrimm hatte alles dabei und machte sich sofort an die Arbeit. Kaum hatte er das Feuer für seine Schmiede entfacht, wo immer er es auch herhaben mochte, erklangen die Schläge eines Hammers.
„Ist da wer?“, ein junges Mädchen, dürr und bleich, betrat die Lichtung. Rotweiß winkte es heran.
„Welch ein Glück, dass ich euch gefunden habe. Ich habe mich im Wald verlaufen. Mir ist so kalt“, brachte es zitternd hervor.
„Wärme dich am Feuer. Herr Zwerg hat gewiss nichts dagegen“, Rotweiß machte ihr Platz.
Das Mädchen trat zitternd an das Feuer heran und streckte ihre Hände den Flammen entgegen, um sie zu wärmen.
„Was machst du so allein im Wald?“
„Ich war mit meinen Eltern einen Baum aussuchen. Doch dann waren sie plötzlich verschwunden.“
„Geh am besten zusammen mit Herrn Zwerg in mein Dorf. Dort wird man dir sicherlich helfen können, deine Eltern wiederzufinden.“
Das Mädchen sah Graugrimm an, der ernst nickte. Rotweiß zog sich seine Handschuhe aus und gab sie dem Mädchen.
„Danke.“
Dem Jüngling knurrte der Magen und so holte er sein Mittagsbrot hervor. Doch noch ehe er den ersten Bissen genommen hatte, sah er die braunen Augen des Mädchens.
„Hier nimm und iss. Ich kann später an Mutters Herd essen“, sagte er und reichte dem Mädchen sein Brot. Diese nahm es dankbar an und biss davon ab.
„Das wäre vollbracht“, verkündete der Schmied, „Da hatte doch jemand den Spalt aufgebrochen. Aber jetzt ist sie zehnmal so gut wie zuvor.“
Rotweiß überlegte kurz und sagte: „Ich bin euch zu großem Dank verpflichtet.“
„Nichts zu danken. Es war mir ein Vergnügen“, antwortete ihm der Zwerg grinsend, „Und nun will ich mich geschwind auf den Weg machen.“
Wenig später verschwanden der Zwerg und das Mädchen zwischen den Bäumen. Rotweiß drehte sich um und sah zu der Tanne, die er zuvor bereits ausgesucht hatte. Er hatte den Baum, mit dem er die Tochter des Müllers beeindrucken konnte, gefunden. Rotweiß stellte sich daneben und holte aus.
„Halte ein Rotweiß“, forderte eine sanfte Stimme.
Der Jüngling stoppte den Schlag kurz vor dem Stamm. Er drehte den Kopf und blickte in das bezaubernde Antlitz einer gänzlich weiß glänzenden Gestalt, die in der Mitte der Lichtung stand. Sie wurde von einem einzelnen Sonnenstrahl beschienen.
„Weshalb willst du diese, mir lieb gewordene, Tanne fällen?“
„Ich will sie meiner großen Liebe schenken, der schönsten Frau auf Erden. Sie soll auf der Spitze des Kirchturmes allen die Liebe verkünden.“
„Ich sehe, deine Absicht ist nicht von böser Art. Deine Treue, Hilfsbereitschaft und Ehrlichkeit, die ich auf meiner Lichtung beobachten konnte, sprechen für dich. Dennoch habe ich diese Tanne selbst gepflanzt und sie soll nicht vergehen, nur um für einen Tag auf der Spitze eines Turmes zu stehen.“
Rotweiß blickte zu der Tanne und nickte. Er überlegte, welche Tanne er stattdessen nehmen sollte, aber keine schien ihm so geeignet wie diese.
Das Lichtwesen sah das und sagte: „Ich will sie dir überlassen. Doch nur unter einer Bedingung. Du musst sie samt der Wurzeln ausgraben und nachdem dir die Liebe erwidert worden ist, musst du sie wieder in den Boden pflanzen.“
„Ich verspreche, das werde ich tun“, erwiderte der Jüngling voller Freude und fühlte sein Vorhaben durch die Worte bestätigt. Er grub die Wurzeln der Tanne vorsichtig aus und trug sie dann auf seinem Rücken durch den Wald zurück zum Dorf. Der Weg kam ihm erstaunlich kurz und die Tanne so leicht vor, als ob sie ihn tragen würde und nicht umgekehrt.

Blaugrün hastete durch die Wälder. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Das hatte er nie. Nur selten sah man ihn irgendwo stehen und reden. Er hatte die Spuren seines Bruders gesehen und war dann in eine andere Richtung in den Wald gegangen. Lange Zeit fand er keine Tanne, die seinen Ansprüchen gerecht wurde. Immer wieder setzte er mit der Axt an und fällte eine Tanne um sie dann jedoch als nutzlos zu bewerten und liegenzulassen. Bald fand er sich tief im Wald wieder, wo die Bäume hoch und die Tannen besonders alt waren. Es wurde bereits Mittag, als die Wut über den Misserfolg in ihm anschwoll. Sein Baum musste schöner sein, als der seines Bruders, nur damit konnte er die Müllerstochter beeindrucken und sie erobern. Wütend warf er die Axt seines Vaters in Richtung einer Fichte. Ein lauter Donner ertönte und sie prallte davon ab.
Graugrimm viel aus den Ästen in den Schnee und blieb darin stecken. Blaugrün lachte laut und aus vollem Hals. Nachdem sich der Zwerg wieder befreit hatte, drehte er sich zu Rotweiß Bruder um. Dieser wurde augenblicklich still. Unter Graugrimm hatte die Axt gelegen, die nun durch den harten Aufprall des Zwerges zerbrochen war.
„Sieh, was du angerichtet hasst“, schimpfte Blaugrün und nahm die Reste der Axt, „Du hasst sie zerstört.“
„Nur weil du sie an den Baum geschleudert hasst. Woraufhin ich herunterfiel.“
„Dumme Ausrede. Du hasst sie zerstört. Weiß doch jeder, dass Zwerge zu nichts taugen. Was hast du überhaupt auf einem Baum zu suchen?“
„Ich suche den Weg zum nächsten Dorf. Dort würde ich gerne allerlei der zwergischen Handwerkskunst zum bevorstehenden Feste anbieten.“
„So was wie dich, braucht man dort nicht“, entgegnete Blaugrün, „Und den Weg zurück zu dem Berg, aus dem du gekrochen bist, wirst du ja wohl finden.“
Graugrimm zeigte sich von der aufgeblasenen Wut des jungen Mannes unbeeindruckt und auch die Größe eines Menschen war für ihn in keiner Weise einschüchternd, so fragte er mit der Ruhe eines Steines: „Da die Axt nun einmal kaputt ist. Schenkst du sie mir?“
„Das alte Ding ist zu nichts mehr zu gebrauchen, war es noch nie. Doch wieso sollte ich sie dir schenken? Gib mir deine dafür und jede Schuld ist beglichen.“
Graugrimm reichte Blaugrün seine Zwergenaxt. Daraufhin grinste der junge Mann breit und dachte sich, dass er wohl an einen besonders dummen geraten sei. Jeder wusste, dass die Äxte der Zwerge viel besser waren als die der Menschen. Der Zwerg hob die Bruchstücke auf und setzte sich an den Baum, wo er begann ein Feuer zu schüren. Blaugrün schüttelte den Kopf. Er ging weiter und suchte nach einer geeigneten Tanne. Jedoch trieb ihn kurze Zeit später die Neugierde zurück auf die Lichtung. Es interessierte ihn doch, was der Zwerg nun anzustellen gedachte. Er setzte sich auf einen Stein, sah dem Zwerg zu und packte sein Brot aus. Als er gerade hineinbeißen wollte, trat ein kleines Mädchen vor Blaugrün und blickte ihn an.
„Bitte. Ich habe Hunger, gib mir ein Stück deines Brotes.“
„Wimmelt es denn in diesem Wald heute nur von Bettlern und Zwergen?“, fragte Blaugrün, „Scher dich hinfort. Unter dem Schnee liegen bestimmt noch ein paar Nüsse.“
Er dachte nicht daran, dem Mädchen etwas von seinem Mittag abzugeben und aß es alleine. Doch das Mädchen verschwand nicht und sah ihm dabei zu.
„Kannst du nicht weggehen? Ich will meine Ruhe.“
„Aber mir ist kalt.“
„Verschwinde. Geh doch zu dem Zwerg! Der hat ein Feuer und ist bestimmt auch so dumm und gibt dir was von seinem Essen ab.“
Er schüttelte den Kopf über die Torheit des Mädchens und holte ein zweites Brot aus seinem Rucksack. Als er wieder aufblickte, war das Mädchen verschwunden. Es verwirrte ihn, das er keine Spuren im Schnee fand, die von ihm weg führten, doch war ihm dies egal, solange das Mädchen nur nicht zurückkehrte.
Nachdem er fertig gegessen hatte, sah er zum Zwerg, der gerade die reparierte Axt in die Höhe hielt. Sie blitzte scharf auf und Graugrimm betrachtete sie zufrieden.
„Gib mir die Axt zurück“, rief er hinüber. Er rannte auf den Baum zu, unter welchem Graugrimm seine Schmiede errichtet hatte. Doch der Zwerg rannte los und war schon zwischen den Bäumen verschwunden.
Blaugrün blickte sich wütend und verblüfft um und rief: „Komm sofort zurück du Dieb.“
Sein Ruf verhallte ungehört.
Er drehte sich um und da viel sein Blick auf eine Tanne. Er stellte fest, wie schön diese doch war. Er hatte den Baum, mit dem er die Müllerstocher beeindrucken konnte, gefunden. Blaugrün stellte sich daneben und holte aus. In diesem Moment zerbrach die Axt in zwei Teile, die in den Schnee fielen. Der Jüngling blickte verdutzt auf die Überreste der Axt.
„Dieser Gauner hat mich betrogen“, schimpfte er.
Er wollte sich gerade auf den Rückweg machen, als eine Stimme zu ihm sprach.
„Warte Blaugrün.“
Er drehte sich um und sah eine wunderschöne Frau. Der Glanz, von dem sie umgeben war, blendete ihn. Er verneigte sich tief und sprach ehrfurchtsvoll: „Was willst du von mir, hochwohlgeborene Herrin?“
„Sag mir was dich bewegt in diesem, meinem Wald zu wandeln. Warum fällst du Bäume und lässt sie liegen, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen?“
„Ich suche eine besondere Tanne und die, die ich bisher fand, waren weder schön noch stark.“
Die Frau nickte, ihr leichtes Gewand flatterte im Wind.
„Deine Wut verschwendet ihre Kraft an den Bäumen. Dein Egoismus vermag deinen Magen zu füllen, doch deine Seele bleibt leer. Die, die anders sind oder denken als du selbst, verachtest du. Die Lügen, die du zwischen meinen Bäumen rufst, vermögen lediglich deine Unvernunft zu übermalen.“
Blaugrün wusste nicht, was er sagen sollte. Noch nie hatte jemand derart zu ihm gesprochen. Die schöne Frau hob ihre leere Hand und ballte sie vor ihrem Mund zu einer Faust. Mit einem Atemstoß von ihr flog ein einzelnes Samenkorn auf ihn zu und viel vor dem jungen Mann in den Boden. Kurz darauf spross ein golden glänzender Zweig aus dem Schnee. Er wuchs, entfaltete sich und teilte sich.
„Hier nimm diese Tanne. Sie ist aus wertvollem Gold und ein jeder ihrer Zapfen ist so wertvoll wie ein ganzer Barren.“
„Was verlangst du dafür Herrin?“
„Nichts weiter, als dass, was du mir ohnehin gibst. Du darfst diesen Wald nie wieder betreten.“
Blaugrün dachte sich, dass das kein allzu schlechtes Geschäft wäre und konnte ein Grinsen über seinen Erfolg nicht unterdrücken. Mit diesem goldenen Baum, konnte er sicher die schönste des Dorfes für sich gewinnen und wenn nicht sie, so jede andere, die er begehrte.
Er lud die Tanne auf seinen Rücken und trug sie durch den Wald. Doch wie das mit Gold so ist, war die Tanne sehr schwer und raubte ihm alsbald den Atem, so das er nur langsam vorankam.

Das Fest war nahe und die Straßen waren erfüllt vom Licht der Kerzen, das aus den Fenstern der Häuser drang. Tannenzweige waren zu Girlanden über den Straßen aufgereiht worden und die Kinder freuten sich schon auf die Geschenke. Schließlich kam die Nacht, auf den der Tag des Festes folgen sollte.
Rotweiß hatte sich lange Gedanken darüber gemacht, wie er die Tanne auf den Turm bekommen könne, ohne dass jemand etwas davon bemerkte. Heimlich und tief in der Nacht, war er auf den Glockenturm gestiegen und hatte ein Seil außen heruntergelassen, an dem er den Baum hinaufzog.
Mit Tauen und Schnüren band er den Baum auf die Spitze des Daches. Als er wieder unten ankam, schien es ihm, als würde von dem Baum eine Wärme und Helligkeit ausgehen, die das ganze Dorf umhüllte. Zufrieden und in froher Erwartung ging er heim und stieg in sein Bett. Von der Anstrengung erschöpft viel er sofort in tiefen Schlaf.
Sein Bruder hatte ihn die ganze Zeit beobachtet und schlich nun aus dem Haus. Blaugrün holte die goldene Tanne aus ihrem Versteck. Er durchtrennte die Knoten, die sein Bruder gebunden hatte und stieß die schöne Tanne in die Tiefe.
Dann band er die goldene Tanne an das Zugseil, welches sein Bruder lediglich im Glockenturm zusammengerollt hatte. Es spannte sich und ein paar Mal hatte Blaugrün die Befürchtung, es würde reißen. Doch schon zog er seinen Baum die letzten Meter hinauf. Letztlich band er sie auf der Spitze des Turmes fest. Als er wieder unten ankam, schien es ihm, als wäre die Nacht viel kälter und dunkler geworden. Zufrieden und in froher Erwartung wollte er nachhause gehen. Er stieß die Turmtür zu. Ein lauter Donner erschallte durch das Dorf.

Die Menschen strömten aus ihren Häusern und fanden Blaugrün neben der Tanne seines Bruders liegend. Sie sahen zum Turm hinauf. Doch war es zu dunkel, als das sie sehen konnten, dass dort eine halbe, goldene Tanne stand.
Sie meinten, er sei wohl vom Turm gestürzt, als er versucht hatte den Baum dort anzubringen. Den goldenen Staub, der überall auf seiner Kleidung haftete, beachteten sie nicht. Mutter und Bruder aber weinten sehr, als sie Blaugrün dort liegen sahen. Schwere Gedanken überkamen Rotweiß. Bald glaubte er, die Schuld am Tode seines Bruders zu tragen. Der Müller und seine Tochter kamen als letztes herbei und trösteten die beiden, während die anderen Männer des Dorfes den jungen grünblau zur Kapelle trugen.
Erst später am Abend gestand Rotweiß seiner Angehimmelten: „Ich habe den Baum dort angebracht, weil ich dich beeindrucken wollte.“
„Du brauchst mich doch nicht zu beeindrucken. Ich kenne dich und weiß um dein gutes Herz. Es ist nicht deine Schuld, dass dein Bruder die Tanne vom Turm entfernen wollte“, erwiderte sie.
Die Nacht schien ihnen ungewöhnlich lang. Doch sie fanden zueinander in langen Gesprächen, wie in langem Schweigen.

Der nächste Morgen war der Morgen des Tages der heiligen Geburt. Doch diesen Tag begannen die Glocken nicht mit den Tönen der Freude des Festes, sondern mit dem schwarzen Geläut der Trauer.
Sie verließen das Haus. Blaugrün hatte man in die Totenkapelle am Rand des Waldes gebracht. Doch der Tannenbaum lag noch dort, wo er heruntergefallen war.
„Sollten wir den Baum nicht nehmen und ihm einen schönen Platz geben? Als Erinnerung und Mahnung?“, fragte die junge Frau.
„Lassen wir ihn dort liegen. Seinetwegen ist mein Bruder in den Tod gestürzt. Soll er doch dort liegen und verdorren“, Rotweiß wandte sich ab.
Eine Bewegung hinter dem Fenster eines nahen Hauses zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Dort saß das kleine Mädchen, dem so kalt und das so hungrig gewesen war und eine Träne lief ihm über die Wangen. Neben ihr stand Graugrimm, der Zwerg. In den Händen hielt er die Axt des Vaters.
Ein Donner ertönte. Von oben herab, viel die zweite Hälfte des goldenen Tannenbaumes. Er glitzerte und funkelte im Schein der ersten Sonnenstrahlen, so sanft wie der Tau auf den Dächern der Häuser. Sie begrub Rotweiß unter sich und zerfiel zu goldenem Staub.
Graugrimm strich über die Schneide der Axt, um den letzten Rest eines goldenen Schimmers zu beseitigen. Die Müllerstochter schrie, doch legte sich schnell ein Schleier über ihre Erinnerung. Später sagten die Leute, es sei ein Wunder, dass sie vollkommen unverletzt geblieben sei.

Man trug den toten Rotweiß zu der Kapelle am Rand des Waldes und bettete ihn neben seinen Bruder. Der Pfarrer verschloss die Tür und ein Mann hielt vor dem kleinen Haus die Totenwache. Doch am nächsten Morgen berichtete er, dass eine wunderschöne Gestalt aus dem Wald gekommen sei und die Toten besucht hätte.
„So kommst du doch an den Rand des Waldes zurück Blaugrün“, hätte die Frau gesagt, nachdem sie durch die geschlossene Tür gegangen war, „Doch wie du schon weißt, ist dir der Eintritt verwehrt.“
„Und auch du kehrst zurück Rotweiß. Doch auch dir muss ich den Eingang verwehren“, sie hätte traurig den Kopf geschüttelt, „Du hattest ein Versprechen gegeben, aber hast es nicht gehalten, weil dein Herz sich von der Wut trüben ließ.“
Am nächsten Morgen fand man auf den Särgen der beiden Brüder ein Zeichen, dass aus dem Stamm der goldenen Tanne gefertigt worden war. Beerdigt wurden sie im Vorhof der Kirche. Seit dem wandern ihre Seelen immer um die Spitze des Kirchturmes herum.
Die Müllerstochter jedoch pflanzte die kleine Tanne in ihrem Garten und hegte und pflegte sie. Eines Tages folgte sie einem Ruf und fand sich auf einer Lichtung tief im Walde wieder. Dort lernte sie eine neue Liebe kennen.
Doch das ist eigentlich eine andere Geschichte …