Bahn geht

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„Nein so geht das nicht!“, theatralisch hob Rufus seine Stimme.
„Es ist rund, also wird es rollen“, die zweite Stimme gehörte einem großen Mann, der einen langen Spitzbart trug.
„Eben das: Es wird rollen. Es wird nicht gehen.“
Verwirrt blickte Emicles zu seiner Konstruktion. Was sollte damit nicht in Ordnung sein? Die Konstruktion bestand aus einem großen Korb, der auf vier Achsen befestigt war. An den Enden jeder dieser Achsen befand sich ein großes Rad aus bestem Stahl. Die Acht Räder griffen in lange, auf dem Boden der Werkshalle verlegte Eisenstangen, die kein Entweichen der fahrbaren Konstruktion erlaubten. Diese Eisenstangen nannte Emicles Schienen. Das Herzstück der Maschine war jedoch der Zylinder vor dem Korb. Was genau sich in dem Zylinder befand, blieb das Geheimnis des Erfinders. Rufus konnte jedoch einen Schlauch, der aus dem Zylinder zu jeder der vier Achsen führte, ausmachen.
„Ein Pferd galoppiert. Ein Gepard sprintet. Ein Känguru hüpft. Und doch sind das alles nur andere Formen von gehen“, Rufus nahm ein Stück Kreide und ging an eine blank geputzte Tafel, dort malte er die genannten Tiere schemenhaft an, „Und die genannten Tiere sind schnell. Sehr schnell“, er malte ein paar Pfeile in die Bewegungsrichtung der Tiere, um die Schnelligkeit zu verdeutlichen, „Anhand dieser Tatsachen alleine ist doch schon beweisen, dass nur mit Gehen hohe Geschwindigkeiten erreicht werden können. Niemals aber mit fahren. Auch hier liefert das Leben einen Beweis. Denken Sie nur an die Eselskarren. Die Erfindung des Rades war eine Erleichterung für den Transport von schweren Lasten, aber für hohe Geschwindigkeiten ist es nicht zu gebrauchen.“
Emicles betrachtete den gezeichneten Esel, dessen Zunge weit heraushing und den großen, schwer beladenen Karren dahinter. Er nickte nachdenklich. Die Logik des Professors war, wie immer, unbestechlich. Trotzdem mahnte ihn sein eigener Forschergeist zur Vorsicht.
„Das liegt eventuell daran, dass er Esel ein langsames Tier ist. Würden sie ihren Gepard vor den Karren spannen würde er schneller fahren.“
„Schwachsinn. Sie würden einen Gepard niemals dazu kriegen, einen Karren zu ziehen. Und selbst wenn, würde der Karren auseinander brechen“, der Professor zeichnete einen Blitz durch den Karren.
„Man müsste den Karren eben stabiler bauen“, erwiderte der jüngere Mann, nahm dem Professor die Kreide aus der Hand und zeichnete die Konstruktion dicker.
„Mit den Materialien, die sie verwenden müssten, würde er zu schwer werden. Nur mit der Kraft des Gehens, in allen Gliedern eines zu bewegenden Objekts, kann dieses bis zur Drethschen Grenze beschleunigt werden.“
„Sie vergessen dabei nur eines, Professor. Dies ist kein Karren“, der junge Emicles deutete auf seine Stahlkonstruktion.
„Nein? Was ist es dann?“, der Professor sah seinen jüngeren Kollegen mit durchdringendem Blick an.
Emicles fühlte, wie ihm Röte in das Gesicht schoss. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Noch nie hatte er sich Gedanken über einen Namen für seine Erfindung gemacht und nun musste er plötzlich einen haben. Wie würde er sonst dastehen? Der Professor sah ihn, mit einem gewinnenden Grinsen, an. Der Korb wurde von einem anderen Korb gezogen, der seine eigenen Achsen mittels elektrischer Energie bewegte. Also wurde der ganze hintere Teil, in dem man Kohle oder Milch oder sogar Menschen transportieren konnte gezogen. Ja, das war es, Emicles war sich sicher.
„Zug. Es ist ein Zug.“
„Ah“, meinte der hagere Mann und in seinem Gesicht vergrößerten sich die Falten des Alters, „Egal wie sie es nennen, gegen einen Geht kann es nicht gewinnen. Ich will ihnen dennoch die Chance geben, es zu probieren“, er machte eine Pause, „Wenn sie unbedingt wollen.“
„Ich nehme die Herausforderung an. Möge die Wahrheit gewinnen“, sagte Emicles einen, seit langem in der Wissenschaft verwurzelten Spruch auf.
Kein Wissenschaftler würde es wagen, dem alten Kodex zu entsagen, der die Wissenschaft definierte. Schon vor langer Zeit hatte sich das System von Beweis und Gegenbeweis etabliert. In einer Herausforderung lief die Wissenschaft zur Höchstform auf. Als junger Wissenschaftler konnte man sich zudem geehrt fühlen, herausgefordert zu werden. Das System hatte der Wissenschaft immer gut gedient.
„Also gut. Dann sagen wir, wir treffen uns in zwei Monaten auf dem Grünfeld. Jede Maschine muss sechshundertundsieben Meter zurücklegen. Wer als Erstes ins Ziel kommt, ist der Sieger.“
Dran gab es nichts auszusetzen, fand der junge Emicles, nickte und schlug in die Hand des grinsenden Professors Rufus ein.

Zahlreiche Leute füllten den Rand des alten Ackers. Am Tag zuvor hatte es stark geregnet. Die Frauen hoben vorsichtig ihre Röcke und stiegen über den Schlamm hinweg, der nur notdürftig mit Stroh befestigt worden war. Einen guten Blick auf das bevorstehende Ereignis wollten sie sich trotz allem nicht entgehen lassen. Selbst der Pfarrer des Dorfes, der immer mit konspirativem Ton „In einer Maschine findest du Gottes Sinn für Scherze.“ zu sagen pflegte, war anwesend.
Da standen sie. Die Gehen links. Der Zug rechts. Die Schienen lagen vor dem Zug, matt glänzend, im Sonnenschein. Kleine Blitze zuckten über den vorderen Teil der betriebsbereiten Lok.
Die Gehen stampfte auf und ab. Sechzehn Beine, bepackt mit Muskeln aus Drahtseilen hielten eine große Wanne, ein Konstrukt aus bunten aneinander gereihten Röhren. Die Beine endeten nicht einfach in ihren Stümpfen, sondern hatten große, sich dem Boden anpassende, Füße.
Emicles prüfte noch einmal die Energiezufuhr und blickte dann zu Rufus hinüber. Dieser hatte ein breites, Siegessicherheit verheißendes, Grinsen aufgesetzt. Der Professor stieg von seinem Gerät hinab und kam hinüber.
„Was halten sie von einer kleinen Erweiterung unserer Herausforderung?“
„Es kommt darauf an, um was es gehen soll.“
„Dann schlage ich vor, das fünf von ihren Freunden bei mir und fünf von den meinen bei ihnen mitgehen“, er unterbrach sich, „Oh, Verzeihung. In ihrem Fall meinte ich natürlich mitfahren.“
„Ich habe nichts dagegen“, erwiderte Emicles ohne auf die Spitzfindigkeit des Professors einzugehen.
„Also gut“, Rufus winkte ein paar Leute herbei, die anscheint schon bereitgestanden hatten.
Bis Emicles fünf Leute gefunden hatte, die sich bereit erklärten, bei dem Professor mitzufahren dauerte es etwas länger. Dann stieg er über eine kurze Metallleiter in seinen Zug.
Ein Blick zurück zeigte ihm, das alle aufgestiegen waren. Zu den fünf Freunden des Professors waren noch zwei seiner eigenen Freunde gekommen. Das zusätzliche Gewicht würde, nach seinen Berechnungen, kaum einen Unterschied machen. Er legte den größten, auf seinem Armaturenbrett befindlichen, Schalter um.
Blitze zuckten an den Rohren der Lok entlang und gaben ein Knistern und Knacken an ihre Umgebung weiter. Im Gegensatz dazu tuckerte die Maschine des Professors laut und stieß hin und wieder eine kleine Rußwolke aus. Die Beine schienen nervös zu zittern.
Das Startsignal gab der Bürgermeister. Er hielt die kleine Signalwaffe gerade von sich weg und kniff die Augen zu, als ob er hoffte, dadurch den Knall zu dämpfen. Die Pistole wurde gen Himmel gerichtet. Schall presste sich durch die Wirrungen des Windes und der Luft. Die Schienen quietschten und stampfende Schritte erklangen.
Beide Maschinen setzen sich in Bewegung. Der Zug rollte zunächst langsam an. Der Geht setzte immer zuerst nacheinander alle linken, dann nacheinander alle rechten Beine auf den Boden. Seine Bewegungen glichen der einer Raupe, wofür mehrere dutzend Gelenke sorgten. Größere Hindernisse hatte man zuvor aus dem Weg geräumt, doch über einen kleinen aus dem Boden ragenden Felsen stieg die Maschine hinweg.
Sechshundertundsieben Meter, wahrlich keine lange Strecke. Die Geht hatte bereits die Hälfte hinter sich gebracht. Auf und ab hüpfte die Sitzwanne, in welcher sich die Passagiere festhielten, während sie ohne jede Schiene über den Boden lief. Der Zug hatte gerade knapp ein Drittel der Gesamtstrecke hinter sich gebracht. Doch jetzt kam er in Fahrt und die Zuschauer am Rand des Feldes konnten mit ansehen, wie sie mit jedem Blitz, der über den Kühler zuckte, aufholte.
Vier der Freunde des Professors verwickelten die anderen in ein Gespräch über die aktuellen Ereignisse. Der fünfte, er war im Dorf als Zack bekannt, zückte ein kleines Messer und lies seinen Arm über den Rand des Korbes baumeln. Wie beiläufig suchte er mit der spitzen Klinge eine der Leitungen die aus der Seite neben dem Steuersitz herauskamen.
Emicles zuckte auf seinem Sitz zusammen, als die Leitung riss und wie eine Peitsche durch die Luft sauste. Er warf sich geistesgegenwärtig auf die Seite und sie verfehlte ihn knapp. Dampf zischte aus der durch die Luft wirbelnden Leitung. Die Passagiere wichen erschrocken zurücln. Doch der junge Wissenschaftler beendete das, indem er einen Knopf drückte und die Zufuhr unterbrach. Die Blitze hörten auf über die Lok zu zucken.
„Was war das?“, fragte der für den Schaden verantwortliche Mann mit vorgetäuschter Betroffenheit.
„Die Steuerleitung für den Beschleuniger ist gerissen. Ich muss es reparieren um die Geschwindigkeit wieder steigern zu können.“
Rufus Freund konnte ein zufriedenes Grinsen nicht ganz unterdrücken. Emicles konnte dieses nicht sehen, dazu war er viel zu sehr mit einer Berechnung in seinem Kopf und den Kontrollen vor ihm beschäftigt, schließlich sagte er: „Aber das macht nichts.“
Beinahe wäre Zack das Kinn hinuntergeklappt, gerade noch rechtzeitig riss er sich zusammen. Nach einer Erklärung brauchte er nicht zu fragen, die gab Emicles bereitwillig.
„Der Zug fährt auf Schienen und mit Rädern. Im Gegensatz zu gehenden Dingen kann der Zug die Massenträgheit für sich nutzen. Wir werden das Ziel erreichen“, und mit diesen Worten überholte der Zug die Gehen.
Professor Rufus beschleunigte seine Maschine so weit er es wagen konnte, doch musste er darauf achten, das Gleichgewicht zu halten. Um so stärker die Füße auftraten, umso mehr versanken sie im matschigen Boden.
Die Reibung verlangsamte den Zug ein wenig. Emicles blickte nach vorne, schätze Geschwindigkeit, Reststrecke und Trägheit ab. Die Passagiere waren gleichzeitig aufgeregt und gebannt. Auch vom Publikum, ertönten erstaunte Rufe.
Der Weg führte nun leicht aufwärts einen kleinen Hügel hinauf. Das Ziel kam immer näher. Die Geht schloss wieder auf, während der Zug immer langsamer wurde.
Emicles wusste, dass er trotz der abnehmenden Geschwindigkeit immer noch zu schnell war und weit über das Ziel hinausschießen würde, wenn er nicht bald etwas unternahm. Die Schienen endeten bereits zwanzig Meter hinter dem Ziel
Funken begannen links und rechts des Korbes in die Höhe zu fliegen. Emicles hatte die Bremse, einen langen Hebel mit rotem Griff, gezogen. Die Geht erreichte mit ihrer Spitze das Ende der Lok. Der Zug bremste stärker mit lautem quietschen und Funken sprühenden Rädern. Eine Gruppe von Leuten, die sich am Zielpunkt versammelt hatten, sprangen zur Seite. Emicles Fahrzeug erreichte die Ziellinie einen Augenblick, bevor die Geht darüber hinausschoss.
Der Zug verlangsamte auf den restlichen Metern der Schienen, bis er zum Stillstand kam. Die Passagiere stiegen staunend aus. Sie wurden sofort von anderen, die nicht hatten mitfahren dürfen, gefragt, wie es gewesen sei. Die Geht kam in einem großen Bogen langsam wieder zurückgelaufen und stoppte nahe dem Zug. Und auch diese Maschine bekam die Aufmerksamkeit der Leute nicht weniger.
„Ich denke, man kann beide Erfindungen für fast gleichwertig erachten“, erklärte Professor Rufus. Welche Maschine er als Sieger empfunden hatte, sagte er nie, aber für die meisten, die ihn kannten, war es kein Geheimnis.
Das war die erste Zugfahrt der Menschheit. Irgendwo. Irgendwann …