Das Mädchen am Bahnsteig

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Ich spüre, wie die Schwerkraft mich nach hinten zieht. Nein, eigentlich ist es die Trägheit meiner eigenen Masse, die mich in meinen Sitz zurückdrückt. Ein leises Quietschen erklingt, als Metall über Metall bewegt wird. Langsam, ganz langsam nimmt der Zug Geschwindigkeit auf. Ich stelle mir vor, wie es in einem dieser modernen Düsenjets sein muss. Alle paar Meter geht ein Ruck durch den Wagon.
Doch schon nach einer Weile achte ich nicht mehr drauf. Es ist zur Gewohnheit geworden, so wie alles zur Gewohnheit wird, früher, oder später.
Ich sehe noch einmal aus dem Fenster, sie ist schon weg. Sie geht immer sofort zurück, wenn ich in den Zug eingestiegen bin. Aber es macht nichts, es macht überhaupt nichts. Der Abschied ist schon so schwer genug, da muss man ihn nicht auch noch unnötig in die Länge ziehen. Eine letzte Umarmung, ein letztes erfreutes Lächeln. Ich greife ihre Hand, doch sie kann nicht mitkommen. Das verstehe ich. Langsam gleitet ihre Hand aus meiner. Ich drehe mich um und steige ein. Der Zug fährt gleich ab und ich muss drin sein.
Langsam werden die Abschiede zur Gewohnheit. Ich hoffe sie werden niemals zu sehr zur Gewohnheit.
Wir fahren mit rasanter Geschwindigkeit an einem Bahnhof vorbei. Draußen steht ein junges Mädchen und schaut dem Zug zu. Ansonsten ist der Bahnhof leer. Ich sehe es nur, weil es genau unter einem hellen Scheinwerfer steht. Es hat eine große, rote Schleife im Haar. Mehr kann ich nicht erkennen in dem kurzen Augenblick. Der Zug hat den Bahnhof schon längst hinter sich gelassen, als wir über eine Brücke fahren. Unter uns liegt ein breiter Fluss.
Ich versuche mich an den Namen zu erinnern, schließlich fahre ich diese Strecke häufiger, aber er will mir nicht wieder in den Sinn kommen.
Nach einiger Zeit wird der Zug wieder langsamer, wir fahren in einen belebten Bahnhof ein. Viele der Leute, die einsteigen sind junge Männer, ebenso wie ich. Doch die meisten von ihnen sind Soldaten, zum Dienst an der Waffe verpflichtet. Morgen beginnt die Woche. Sie müssen in ihre Kasernen zurück.
Ich wende den Blick von den Einsteigenden ab, sehe wieder aus dem Fenster. Der Bahnsteig hat sich geleert nur ein kleines Mädchen steht vor meinem Fenster und sieht zu mir. Sie hat eine rote Schleife im Haar. Ich schüttel den Kopf. Was für Zufälle es gibt.
Die Soldaten setzten sich und holen ein Paket Bier aus ihren Rucksäcken. Ich beachte sie nicht. Das Mädchen blickt mich aus großen Augen an.
Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Das Mädchen verschwindet aus meinem Blickfeld. Eigentlich wollte ich etwas lesen, doch nun werden mir plötzlich Details bewusst. Das Mädchen trug ein Kleid. Rot gepunktet und aus einem weißen Stoff, der im Licht der Lampe, unter der sie stand, leicht schimmerte.
Der Zug nimmt wieder Geschwindigkeit auf und der Zugführer spricht zu uns, wünscht allen einen guten Tag und erzählt etwas über den weiteren Fahrplan. Wieso eigentlich? An jedem Platz scheinen zwei Fahrpläne zu liegen. Egal, mich interessiert es nicht wirklich. Ich weiß, wo ich aussteigen muss.
Das Mädchen trug schwarze Schuhe. Kleine, schwarze Schuhe. Wir fahren an einem Feld aus einzelnen Lichtern vorbei. Vielleicht der Parkplatz einer großen Firma, oder auch eines Freizeitparks. Es ist schon fast zweiundzwanzig Uhr. Parks oder Firmen haben sicherlich schon zu, noch dazu wo heute Sonntag ist. Wieso lässt man eigentlich trotzdem das Licht brennen? Man könnte doch bestimmt mindestens einen Arbeitsplatz mehr erhalten, wenn man das Licht nicht ständig brennen lassen würde.
Was hatte das Mädchen so spät alleine auf dem Bahnhof gesucht? Hatte es vielleicht auf seine Mutter gewartet? Vielleicht auch auf einen Zug. Vielleicht waren die Großeltern in der Nähe gewesen, ich hatte sie nur nicht gesehen?
Die Soldaten erzählten schmutzige Witze und begannen laut zu lachen, einer stößt mich an. Ich blicke ihn kurz an, drehe meinen Kopf dann wieder um und sehe erneut hinaus.
Sie reden jetzt über mich, fragen sich vielleicht was mit mir los ist. Vielleicht lachen sie auch über mich. Mir ist das egal. Ich höre nicht hin. Ich versuche mich an mehr Details von diesem seltsamen Mädchen zu erinnern. Wieso finde ich sie eigentlich seltsam? Sie war doch ein ganz gewöhnliches Kind.
Das Gesicht des Mädchens wirkte auf mich verstörend. Ihre Augenbrauen waren an den äußeren Enden leicht nach oben geschwungen. Die Wangen schienen geschminkt zu sein.
Wir nähren uns einer Bücke, ich sehe auf. Die Brücke ist leer. Bis auf …
Da ist sie wieder. Das Mädchen. Die rote Schleife im Haar. Mir wird bewusst, sie hat leicht asiatische Züge. Sie lächelt. Sieht sie mich etwa an? Unmöglich!
Schon hat der Zug die Brücke passiert.
Vielleicht bin ich einfach zu Müde. Dabei war der Tag doch eigentlich überhaupt nicht anstrengend. Wir haben uns gut amüsiert. Ich habe die Arbeit echt einmal Arbeit sein lassen und mich einfach nur entspannt.
Dann ist meine Phantasie mit mir durchgegangen. Bestimmt. Das kommt schon einmal vor. Vielleicht waren es auch einfach nur dumme Zufälle.
Drei seltsame, dumme Zufälle.
Der Zug fährt weiter, mir werden das Rattern, das Ruckeln der Bahn auf den Gleisen und das Gegröle der Soldaten wieder bewusst.
Bei der nächsten Station steigen diese aus. Es wird wieder leerer im Abteil. Die meisten Gäste haben bereits ihr Reiseziel erreicht. Aber für mich ist die Fahrt noch lange nicht zu Ende.
Jetzt steigen ein paar freundliche alte Damen ein. Ich sehe wieder aus dem Fenster, doch dieses Mal sehe ich das Mädchen nicht.
Es war wirklich nur eine Einbildung.
Und weiter geht die Fahrt. Ich lehne mich zurück. Mir gehen zu viele Gedanken durch den Kopf, als das ich nun noch mein Buch herausholen und zu lesen beginnen könnte.
Das Mädchen war höchstens vierzehn Jahre alt. Ihre Augen waren groß und freundlich. Sicherlich ein nettes Mädchen denke ich mir. Ich stelle sie mir vor. Male mir ihr Leben aus. Wenn ich mal eine eigene Tochter haben sollte, würde sie auch so schön sein. Und sie würde auch freundlich sein. Ich muss lächeln. Schöne Wunschvorstellungen. Erstens kommt es meistens anders, zweitens als man denkt und drittens, nur wenn es nie geplant war.
Mir fallen die Augen zu, als meine Gedanken weiter abdriften und sich Bilder vor meinen Augen zu formen beginnen.
Bilder von der großen Stadt. Hochhäuser und Menschenmassen, die sich über Gehsteige zwängen. Bilder die hängen bleiben, bei so einem einfachen Landburschen wie mir. Dann werden die Bilder konfus, ohne Zusammenhang. Ich werde mich später an keines von ihnen mehr erinnern.

Plötzlich quietscht es laut. Ich werde aus meinem Sitz nach vorne gezogen. Hat irgendwer die Notbremse gezogen? Dem Nachbarn rutscht sein Getränk vom Tisch.
Die ersten geäußerten Gedanken stammen von seiner Frau: „Das geht doch nie wieder aus den Sachen heraus!“
Ich zucke zusammen. Für ein paar Momente weiß ich nicht mehr, ob ich wach bin oder Träume. Beides scheint so real und doch so unmöglich zusammengehörig.
Das Mädchen am Bahnhof, durch den wir durchgefahren sind.
Eine Durchsage des Zugführers zum Grund des plötzlichen Stopps. Ich höre nicht hin.
Das Mädchen auf dem Bahnsteig, als bereits alle anderen eingestiegen waren.
Die Passagiere, die aufstehen und sich an die Fenster drücken. Aufgeregtes Durcheinander, die Stimmen dringen auf mich ein. Ich bleibe sitzen, die Bilder überwältigen mich noch immer.
Das Mädchen auf der Brücke, unter der die schnellsten Züge innerhalb eines Sekundenbruchteils hinwegfahren. Eine Träne rollt langsam über ihre Wange, löst sich von ihrem Gesicht und fällt auf den Zug.
Die Leute setzten sich wieder.
Trotzdem bleibt der Zug stehen, die Leute reden weiterhin aufgeregt miteinander. Ich starre weiterhin aus dem Fenster.
Und dann, nur sichtbar für mich, öffnet sich die Nacht. Die Sterne weichen und das Dunkelblau des Himmels verwandelt sich an einem Punkt in das Hellblau des Tages. Ein Sonnenstrahl fällt hinunter. Ich folge ungläubig seinem Weg mit meinen Augen.
Im Gras liegt eine große rote Schleife …