Tag der Endlosigkeit

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Träumen wir nicht alle manchmal davon, dass ein Tag nie vergehen möge? Einer dieser Tage, die man genießt, weil alles zusammenpasst? Aber kein Tag ist ohne Ende und so bewegen wir uns von einem zum nächsten. Gibt es keine andere Mög-lichkeit?

Ich erwachte, geweckt von etwas Weichem und Feuchtem, das mein Gesicht berührte. Mein Griff danach führte jedoch ins Leere. Ich musste blinzeln, als ich die Augen öff-nete, denn es war viel zu hell. Hoch über mir stand die Sonne mit ihrem hellen und wärmenden Licht und neben mir stand im hohen Gras ein Hund. Seine treuen Augen blickten mich durch langes, zottiges Fell an.
Ich setzte mich auf und sah mich um. Ich hatte auf einem Hügel gelegen, der sich inmitten einer großen Wiese, mit grünem, saftigen Gras befand. In einiger Entfer-nung vor mir lag ein Wald, der vom Licht durchflutet schien. Zu meiner rechten Sei-te fiel der Hügel ab. Er endete an einer Klippe. Dahinter hörte ich, wie Wellen mit beruhigendem Rauschen gegen Fels roll-ten. Eine Zweite, kleinere und schwächere Sonne stand in der Ferne am Horizont und versank gerade im Meer.
Ich strich dem Hund durch sein Fell, was ihm sehr zu gefallen schien. Er leckte mir noch einmal über das Gesicht, mit einer Freude in den Augen, die mich willkom-men hieß. Für einen kurzen Moment er-schien mir dies alles nicht real zu sein. Durch meine Gedanken rasten Bilder von einer weniger friedlichen Welt, deren Hek-tik und Ängste mich zu sich ziehen woll-ten. Alles, vom Gras bis zum Himmel schien mir hier so vollkommen anders, als ich es gewohnt war. Doch aufgeregtes Zwitschern einer kleinen Gruppe Vögel lenkte meinen Blick nach Links und ver-jagte die beängstigenden Gedanken. Mit ihrem blau und grün schillernden Gefieder sprang ein Teil von ihnen in die Luft, nur um kurz darauf wieder zwischen den an-deren zu verschwinden. Ich konnte nicht sagen, ob sie sich stritten oder einfach nur Spaß hatten. Mir jedenfalls bereitete es Freude, ihnen einfach nur eine Zeit lang zuzusehen. Plötzlich fiel einer von ihnen mit einem lauten Platschen in einen Bach, der sich durch die Wiese schlängelte. Ich musste lachen, als der kleine Vogel aus dem Wasser kam und sich schüttelte, so-dass auch die anderen Nass wurden. Mein Lachen drang wohl bis zu ihnen hinüber, denn mit einem Mal erhoben sie sich alle in die Luft und flogen von mir fort. Mein Blick folgte ihnen, solange ich es konnte.
Ich stand auf und ging ein paar Schritte in Richtung des Baches. Der Hund blieb hin-ter mir zurück, blinzelte nur einmal kurz in meine Richtung, ehe er sich einrollte und zu dösen begann. Kaum am Bach an-gekommen, verspürte ich großen Durst. Also kniete ich mich an den Rand des Wassers, griff mit meinen Händen in das kühle Nass und nahm einen ebenso gro-ßen Schluck. Während noch das Wasser meine Kehle hinunterrann, spürte ich, wie sich neue Lebensgeister in mir regten. Ich fühlte mich erfrischt und von aller Müdig-keit befreit.
Als ich aufblickte, sah ich, dass am Bach-lauf, nur ein paar Schritte oberhalb von mir, ein Reh ebenfalls aus dem Bach ge-trunken hatte. Wir sahen uns einen Au-genblick lang schweigend an, dann sprang es plötzlich mit einem Satz über das Was-ser hinweg und weiter über die Wiese. Ohne nachzudenken, stand ich auf, mach-te ebenfalls einen Satz über den Bach und folgte dem Reh in einem so schnellen Lauf, als würden mich Winde tragen. Ich sprang durch das hohe Gras der Wiese, über Blumen hinweg, die sich sanft in der leichten Sommerbrise bewegten. Ich folgte dem Reh bis zum Waldrand und darüber hinaus. Lief über das trockene Laub des Waldes. Hörte Äste unter meinen Schrit-ten knacken und aufgebrachte Eulen ru-fen. Bald war ich mit dem Reh auf glei-cher Höhe, gemeinsam liefen wir weiter, Seite an Seite, als wäre es das natürlichste aller Dinge.
Nachdem einige Zeit vergangen war, ver-abschiedeten wir uns voneinander. Das Reh verschwand bald darauf im Dickicht. Meine Schritte wurden langsamer und bald lief ich nicht mehr, sondern ging zwi-schen den Bäumen umher. In diesem Teil des Waldes ragten die Bäume weit hinauf. Ihre Wipfel schienen den Himmel selbst berühren zu wollen. Das spärliche Son-nenlicht spielte auf dem Boden, zwischen Pilzen, Blumen und jungen Bäumen, Fan-gen mit den Schatten.
Nach einiger Zeit erreichte ich eine Lich-tung. Als ich sie betrat und der warme Sonnenschein mich berührte, hatte ich das Gefühl, nicht alleine zu sein. Doch als ich mich umblickte, konnte ich niemanden erblicken. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, es hätte eine Stunde, ein Tag oder ein Jahr sein können. Doch da die Sonne sich noch nicht weit bewegt hatte, war wohl kaum Zeit vergangen.
Schließlich ging ich weiter und lenkte mei-ne Schritte zum nächsten Waldrand. Vor diesem lag ein alter Feldweg mit tiefen Furchen und noch frischen Spuren von stolzen Pferden, die ich irgendwo in der Ferne wiehern hören konnte. In der Nähe standen einige Kühe auf einer Wiese, die von keinem Zaun umgeben war und wei-deten sich am saftig grünem Gras. Nun erst wurde mir bewusst, dass ich schon lange nichts mehr gegessen hatte. Ich ver-ließ den Wald und wandte mich nach rechts. Auf der anderen Seite des Weges wuchsen ein paar Büsche mit goldgelb und rot glänzenden Beeren. Ich nahm mir eine Handvoll der Beeren und probierte sie. Ihr süßer Geschmack schien mir Stär-ke zu verleihen, wie das Wasser meine Müdigkeit vertrieben hatte und mit jeder Beere verschwand das Hungergefühl mehr und mehr, bis nichts mehr davon zurück-geblieben war.
Gestärkt wanderte ich ein wenig den Weg entlang, der mich langsam in Richtung hoher, schneebedeckter Berge führte. Hier und dort konnte ich in der Ferne einige große Städte sehen. Doch verspürte ich nicht den Drang, mich in das Getümmel all dieser Menschen einer Stadt zu stür-zen. Trotzdem wollte ich nicht mehr den ganzen Weg alleine weiter gehen. Ich dach-te mir, dass es doch ganz interessant sein müsste, den Weg mit jemandem zu teilen und über das, was man sah und erlebte, reden zu können.
„Wohin des Wegs?“, fragte mich plötzlich eine Stimme.
Ich blickte aus meinen Gedanken auf und sah auf einem Felsen am Rand des Weges einen jungen Mann sitzen. Seltsam, dass ich ihn zuvor nicht bemerkt hatte. Er war groß und hätte er gestanden, so hätte er mich bestimmt um einen ganzen Kopf überragt. Sein schulterlanges, blondes Haar, fiel in langen Strähnen an seinem Gesicht herunter. Ich fragte mich, woher er gekommen sein mochte. Doch war das nicht eigentlich egal? Dort saß jemand, der mich vielleicht ein wenig auf meinem Weg begleiten würde.
„Nur hier und dort entlang, wohin mich meine Gedanken treiben“, erklärte ich. Denn eine bessere Antwort fiel mir nicht ein.
Er lächelte und schwang sich von dem Felsen hinab. Ich sollte Recht behalten, er überragte mich um einen ganzen Kopf.
„Macht es dir etwas aus, wenn ich dich ein Stück auf deinem Weg begleite?“
„Nein“, auch ich musste lächeln, denn ge-nau das war es doch, woran ich gerade eben noch gedacht hatte: Nicht alleine durch die Welt streifen zu müssen?
„Dann lass uns gehen und sehen, was die Welt noch zu bieten hat.“
Wir folgten noch ein Stück dem Weg, dann gingen wir einfach querfeldein. Es stellte sich heraus, dass er ebenso wie ich durch die Welt wanderte, ohne Rucksack, ohne Waffen, nur begleitet von seinen Träumen. Hin und wieder ruhten wir uns in den weiten Wiesen aus. Wir sprachen über das Leben, über das Sein und über all die sinnlosen Dinge, die das Leben le-benswert machten. Unser Lachen erntete mehr als einmal erstaunte Blicke von gro-ßen Ochsen, die über die Wiesen streiften. Einmal trauten wir uns so nahe an sie heran, dass wir ihnen durch das kuscheli-ge Fell streicheln konnten.
Die Berge der Ferne kamen mit jedem Schritt näher und wuchsen an. Einmal fürchtete ich, dass die Zeit wie im Flug vergehen würde, doch immer, wenn ich zur Sonne hinauf sah, schien sie noch ge-nau dort zu stehen, wo sie schon gestan-den hatte, als ich das letzte Mal zu ihr aufblickte.
Das Land wurde hügeliger, umso weiter wir gingen. Kleine, plätschernde Bäche kamen aus den Bergen, ihr eiskaltes Was-ser war frisch und hatte einen herrlichen Geschmack. Wir gingen durch eine Schaf-herde hindurch, die sich nur wenig von uns stören ließ und immer weiter in Rich-tung der Berge. Die Hügel wurden steiler, ragten höher empor und bald zerklüftete sich das Land in zunächst weitläufige, dann immer engere Täler. Wir stiegen auf einen Berg, machten unter einem Apfel-baum, der einsam auf der Spitze stand, halt und ließen uns gegen den Stamm sin-ken.
Als ich meine Hand ausstreckte und scherzte, dass ich einen Apfel auffangen wollte, fiel tatsächlich ein Apfel vom Ast herab. Er landete auf meinem Kopf. Wir lachten, aßen und erhoben uns wieder. Meinen Blick ließ ich in die Ferne schwei-fen. Zur Rechten die sanften Hügel, mit denen sich im Wind wiegenden Blumen, zur Linken eine ruhige Seenlandaschaft mit dort rastenden Vogelscharen. Und vor mir? Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück. Vom Boden bis zum Himmelzelt erhob sich ein Schatten, gleich einer Wand. Bedrohliche Dunkelheit schluckte dort die Strahlen der Sonne. Das saftige Grün des Rasens endete abrupt. Der An-blick schreckte mich ab, doch weckte er auch Neugierde. Zog mich an.
„Was ist das dort?“, fragte ich mich selbst. Ich glaubte die Frage nicht ausge-sprochen zu haben.
„Dort treffen sich Tag und Nacht“, erklär-te mein Begleiter, „Hier haben wir den Tag, der ewig währt, mit all den Pflanzen und Wesen, die im Sonnenlicht gedeihen. Dort ist die Nacht, die ewig währt, mit dem Leben, das im Schein des Mondes wächst.“
„Das klingt, als würde dort das Böse und Dunkle wohnen“, meinte ich, einen weite-ren Schritt zurückweichend.
„Nein. Dort ist das Leben nur anders, aber nicht weniger gut oder schlecht als hier. Komm und reich mir deine Hand. Ich zeige dir, wo Tag und Nacht zusammen ewig sind“, sagte er und streckte mir seine Hand entgegen.
Zunächst zweifelte ich, doch dann gewann Neugierde. Ich ergriff die angebotene Hand. Zusammen lenkten wir unsere Schritte dieser düsteren Wand entgegen. Wir verließen die Berge und gingen an ih-ren Füßen entlang, bis wir die Stelle errei-chen, die ich vom Berg aus gesehen hatte. Aus der Nähe betrachtet wirkte die Gren-ze zwischen Tag und Nacht nicht mehr so starr wie eine Wand, sondern vielmehr wie eine Art Nebel, der sich kaum merkbar ein wenig vor und zurückbewegte. Ich trat ganz nah an den Nebel heran, schloss die Augen, streckte meine Hand aus und fühl-te. Es war rau, kalt, dunkel und einfach anders. Aber nicht böse. Ich öffnete die Augen und betrachtete die Schönheit der Nacht. Blumen, die nur im Mondlicht ge-deihen, streckten sich dem Himmel entge-gen. Die Augen einer Eule blickten zu mir. Ein Wolf schlich an knorrigen, alten Bäu-men vorbei. Und eine kleine Blume glit-zerte silbern im Mondenschein.
„Das ist schön“, sagte ich und trat einen Schritt vor, so dass ich mit einem Bein im Tag, mit dem anderen in der Nacht stand. Der Mond stand an derselben Stelle, wie die Sonne im Tage. Ich sah mit einem Au-ge den Mond, mit dem anderen die Sonne.
„Genieße jeden Augenblick und nehme ihn in dich auf. Denn selbst, wenn der Tag ein Ende kennt, so kann ein Augenblick doch in deinem Herzen endlos sein.“