Kranikkel - der Wunsch etwas Besonderes zu sein

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Es war einmal, vor nicht allzu langer Zeit, da lebte in einem Wald, weit abseits aller Wege, die die Menschen durch die Welt angelegt hatten, ein Ka-ninchen. In einem recht freundlichen und wunder-samen Wald. Es hatte einen großen Bau, ebenso einen, wie ihn alle Kaninchen haben. Und es konn-te so schnell laufen, dass es jedem Fuchs entkam, der gierig nach ihm schnappen wollte. Obwohl das auch daran liegen konnte, dass die Füchse in die-sem Wald meist vollgefressen und dick waren, sodass sie nur langsam liefen.
Aufgewachsen war es mit seinen vier Brüdern und drei Schwestern im mütterlichen Bau. Es war um-sorgt und umhegt worden, bis es eines Tages sagte: „Mutter, ich gehe nun. Lebe wohl und auf Wieder-sehen.“
Dann hatte es sich seinen eigenen Bau gegraben und eine eigene Familie gegründet. Fünf Kinder hatte es, was genau im Trend der Zeit lag. Und ebenso wie ihr Vater hatten die kleinen buschiges und abstehendes Haar, das mal weiß, mal braun gefleckt, Schutz vor den Gefahren aus der Luft bot. Weder glänzte es besonders, noch war es besonders rau oder hässlich.
Was die Menschen zu keiner Zeit wussten, auch in jenen alten Tagen nicht, ist, dass sich auch die Tie-re untereinander Namen geben. Kranikkel, von den Karnickel war ein schöner und beliebter Name, doch er war nichts Besonderes. Oft passierte es sogar, dass wenn jemand „Kranikkel!“ reif, sich zwölf oder mehr Kaninchen einfanden, um zu schauen, warum sie gerufen wurden.
So verlief das ruhige Leben des Kaninchens. Mor-gens früh suchte es sich eine Stelle mit saftigem Gras. Den ganzen Tag über war es auf der Hut vor den zahlreichen Feinden. Abends hüpfte es in sei-nen Bau zurück und kuschelte sich an seine Fami-lie.
Mehrere Winter lang ging das so. Schon bald wa-ren die meisten Tage seines Seins gezählt. Hin und wieder streifte es durch die Wälder auf der Suche nach einem besseren Futterplatz. An einem jener Tage, an denen die Sonne vom Himmel schien und die Vögel in den Ästen lustig und munter ihre Lie-der zwitschern, gelangte es an einen kleinen, will-kommenen Wasserlauf, der leise plätschernd das lange ersehnte kühle Nass brachte. Als sich Kra-nikkel an dem kleinen Bachlauf labte, bemerkte es nicht, wie sich ein Wolf langsam von hinten an-schlich. Er hatte graues und glänzendes Fell und eine große Schnauze in denen lange, spitze Zähne saßen. Als Kranikkel den Neuankömmling be-merkte war es schon zu spät, um zu flüchten. Es kauerte sich auf den Boden, zog die Ohren eng an sich und der kleine buschige Schwanz zitterte. So groß war seine Furcht, dass es schon sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen sah.
Doch der Wolf trottete an ihm vorbei und trank mit seiner langen Zunge einen großen Schluck. Als das Kaninchen dies bemerkte, sah es verwundert auf und blickte den Wolf an.
„Willst du mich denn gar nicht fressen?“, fragte es.
„Nein. Weshalb sollte ich?“, gab der Wolf zurück und drehte sich nicht einmal um.
„Ich bin ein Kaninchen und du bist ein Wolf. Wöl-fe fressen doch Kaninchen.“
„Ist dem so?“, der Wolf schien wenig interessiert zu sein, „Ich habe keinen Hunger auf Kaninchen. Ich habe schon tausende von deiner Art gefressen.“
Diese Worte drangen tief in Kranikkels Bewusst-sein ein und es wurde sich mehr als je bewusst, dass es nur ein Kaninchen von vielen war. Ohne noch ein Wort mit dem Wolf zu wechseln, hüpfte es in den Wald davon. Ziellos wanderte es drei Tage und Nächte umher und fragte viele Tiere: „Was bin ich?“, und immer wieder bekam es nur die eine Antwort: „Ein Kaninchen.“
Als der vierte Morgen dämmerte, da kehrte es zu seinem Bau zurück und seine Frau und seine Kin-der waren froh, hatten sie doch gedacht, dass Kra-nikkel gefressen worden sei. Das Kaninchen er-zählte allen von seiner Begegnung mit dem Wolf und das alle in ihm nur eines von vielen Kaninchen sahen. Frau und Kinder stimmten dem zu. Und so fasste Kranikkel einen Beschluss.

Schon am nächsten Morgen hatte Kranikkel sein gesamtes Hab und Gut gepackt und sagte: „Kinder, ich gehe nun. Lebt wohl und auf Wiedersehen!“
Alle Tränen halfen nichts, denn das Kaninchen hatte seinen Entschluss gefasst und ging auf Wan-derschaft. Es wollte in die Welt gehen und heraus-finden, wie es zu etwas Besonderem werden konn-te.
Alles auszuführen, was ihm während seiner viele volle Monde dauernden Reisen widerfuhr, wäre zu lang, um es hier zu schreiben, aber eine wichtige Begegnung sollte es haben, bevor das Ende seiner Reise kam.
Kranikkel von den Karnickel saß im Graben neben einer Straße, die die Menschen für ihre großen Kutschen gebaut hatten und knabberte genüsslich an einem Stück Gras. Da kam ein Mensch auf ei-nem hohen Ross und hielt kurz inne. Das Pferd war schwarz wie die Nacht und seine Mähne war groß wie das Gras einer Sommerwiese. Der Reiter selbst trug seltsame Kleidung, ein glänzendes Stück aus Blech mit einem komischen Vogel, der darauf gemalt worden war. An seiner Seite bau-melte ein platt geschlagener Stab, dessen Seite glänzte wie die Axt des Metzgers, mit der Kranik-kel beinahe Bekanntschaft geschlossen hätte. Doch war es viel länger und der Griff war reich verziert. Verwundert, aber auch geängstigt blieb das Kanin-chen im Gras verborgen, bis der Reiter seinen Weg fortsetzte. Die Spuren im Boden des Weges waren deutlich zu sehen und der Geruch des Pferdes zog noch lange in Kranikkels Nase. Neugierig folgte das Kaninchen dem Reiter und sein Weg führte es zu einem großen Berg, über dem ständig dunkle, schwarze Wolken lagen. In der Luft lag ein merk-würdiger, giftiger Geruch. Das Kaninchen sah den Reiter hinter einem großen Felsen mit seinem lan-gen Schwert um sich schlagen.
„Komm nur! Ich werde dir einen deiner Köpfe ab-schlagen und als Trophäe mit nach Hause nehmen. So etwas hat kein anderer je seinem Fürsten mit nachhause gebracht“, rief der Mensch, doch er musste einer Stichflamme ausweichen, die den Boden an der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte, schwarz färbte. Kranikkel fürchtete sich sehr, doch noch viel mehr als die Angst wog in ihm die Neugierde zu erfahren, was so besonders und einzigartig war, dass dieser Mensch es unbedingt haben wollte. Als es um den Felsen sah, erschrak es jedoch derart, dass es auf der Stelle umkehrte und so schnell rannte, wie es nur konnte. Es hatte einen Drachen gesehen! Doch nicht irgendeinen Drachen. In den alten Tagen hatte es viele Drachen gegeben. Dieser Drache hatte jedoch drei Köpfe. Es rannte zurück, bis es die Straße erreichte und darüber hinaus, bis es an einen Fluss kam und folgte diesem bis zu einem Wald, in dem es sich sicher fühlte.

Es dauerte noch einige volle Monde, in denen Kra-nikkel weiter durch die Welt streifte, meistens nur noch in Wäldern, bis es eines Tages eine Quelle auf einer Lichtung fand. Als es aus der Quelle trin-ken wollte, erschien ihm eine Fee und da wusste das Kaninchen, dass seine Reise bald zu Ende sein würde.
„Hallo mein Kleiner“, sagte die Fee mit sanfter Stimme, „Wie ist dein Name?“
„Kranikkel von den Karnickel bin ich“, berichtete es eingeschüchtert von der Schönheit, dieser Frau, die weder menschlich noch tierisch war und es schämte sich seiner Gewöhnlichkeit.
„Ich sehe in deinem Herzen, dass du einen Wunsch hast. Sprich, was willst du mehr als alles andere?“
Kranikkel sah auf, noch mehr erstaunt von der Ga-be der Frau, seinen tiefsten Wunsch sehen zu kön-nen.
„Ich wünschte, ich wäre etwas Besonderes.“
„Etwas Besonderes willst du sein? An was denkst du da?“
„Ich habe auf meinen Reisen manches gesehen. Riesen, so groß wie ganze Berge. Elfen, die so schön sind, wie die Sterne am Himmel. Aber alle waren doch nichts Besonderes, ich möchte beson-ders sein. Ich wünsche mir, ich hätte drei Schwän-ze! So wie der Drache mit den drei Köpfen etwas besonders ist, so will ich etwas Besonderes sein.“
„Drei Schwänze?“, fragte die Frau noch einmal nach, doch nachdem Kranikkel ihr seinen Wunsch bestätigt hatte, konnte sie nicht anders als ihre Magie zu wirken und zu sagen: „So sei es.“
Von da an hatte Kranikkel von den Karnickel drei Schwänze. Einer so buschig wie der andere und doch war jeder etwas Besonderes. Denn der eine war in Schwarz, während der andere braun schim-merte und der mittlere glänzte, silbern wie Staub der vom Mond fällt. Zufrieden damit, nun einzig-artig zu sein, kehrte das Kaninchen in seinen Wald zurück. Doch seine Frau und alle Kinder waren mittlerweile gestorben, die Menschenjäger hatten Jagd auf sie gemacht. Die noch lebenden Kanin-chen mieden Kranikkel. Auch die anderen Tiere waren unfreundlich und beachteten es nicht.
So wanderte es im Wald umher und fühlte in sei-nem Schmerz, wie seine eigenen Tage kürzer wur-den. Schließlich setzte es sich an den Bach, an dem es vor so vielen vollen Monden den Wolf getroffen hatte und betrachtete seine drei Schwänze im Spiegel des Wassers.
Neben ihm tauchte ein weißgraues Gesicht mit einer langen Schnauze auf und betrachtete eben-falls die drei Schwänze. Doch diesmal hatte Kra-nikkel keine Angst.
„Willst du mich nun fressen?“, fragte es in der Hoffnung, dass wenigstens einer seiner Besonder-heit Beachtung schenken würde.
„Nein. Weshalb sollte ich das?“, erwiderte der Wolf.
„Du hast doch bestimmt noch nie ein Kaninchen mit drei Schwänzen gefressen!“
„Das habe ich in der Tat noch nie“, brummte der Wolf und umrundete Kranikkel.
„Und weshalb willst du mich dann nicht fressen? Ich bin jetzt etwas Besonderes.“
„Etwas Besonderes? Ginge es mir darum, etwas Besonderes zu fressen, dann hätten sich meine Zähne schon vor vielen vollen Monden an dir ver-gnügt. Schon damals hast du mich überrascht, denn noch nie in meinem ganzen Leben, hatte mich ein Kaninchen angesprochen.“
Die Worte drangen tief in Kranikkels Bewusstsein ein und da begriff es, dass es nicht die drei Schwänze waren, die es zu etwas Besonderen machten, sondern die Tatsache, dass es so vieles getan und erlebt hatte. Aber die drei Schwänze wurde es sein Lebtag nicht wieder los …